BLAU SCHNEE – Tagblatt Artikel von Katharina Brenner

Die Ostschweiz hat heute noch fünf Gletscher. Laut Prognosen werden sie in den nächsten 30 Jahren verschwinden. Ausgerechnet der kleinste von ihnen unterhalb des Säntisgipfels dürfte am längsten durchhalten.

Heute Samstag könnte ein guter Tag für den Blau Schnee werden. Für den Vormittag sind auf dem Säntis Schneeschauer vorhergesagt. Bliebe Schnee liegen, könnte er die Gletscherschmelze für ein paar Tage stoppen. Aber mehr auch nicht. Der Schnee könnte nicht das Eis zurückbringen, das die Hitzewelle im Juni und Juli gefordert hat. Und er könnte erst recht nicht die steigenden Temperaturen aufhalten, die kleine wie grosse Gletscher in der ganzen Schweiz bezwingen. Der Blau Schnee ist einer davon. Er liegt an einer steilen Felswand, nördlich des Säntisgipfels.

«Hier hat früher das Eisfeld begonnen», sagt Walter Jaggi und zeigt in eine Felsspalte unterhalb der Himmelsleiter. Heute sind dort Steine und Felsen zu sehen, zwischen der Spalte geht es mehrere Meter hinab. Erst weiter unten beginnt eine Fläche aus Eis und Schnee. Als Tourenführer beim Schweizer Alpen-Club, Sektion St. Gallen, hat Jaggi, Jahrgang 1949, zig Wanderer hierher gebracht. Der alte Weg zum Blau Schnee durch die Felsspalte ist mit einem Schild abgesperrt. Der neue Weg führt aussen rum, über den Sattel südlich des Girenspitzes.

Jaggi fällt es schwer, den Blau Schnee einen Gletscher zu nennen. Er sagt lieber «Gletscherli» oder «Flecken». Und er hat nicht unrecht. Der Blau Schnee hat bei der letzten Messung vor sieben Jahren eine Fläche von 0,026 Quadratkilometern umfasst. Er ist der kleinste der fünf Ostschweizer Gletscher. Aber auch die anderen kommen nicht einmal auf einen halben Quadratkilometer und fallen in die kleinste Grössenklasse. Dort sind sie in guter Gesellschaft: 1000 der 1400 Gletscher, die es heute in der Schweiz gibt, gehören in diese Kategorie. 1973 zählte das Land noch 2100.

Glänzendes Eis neben grauem Schutt

Walter Jaggi passiert das erste von zwei Schneefeldern. Ein Geröllfeld liegt zwischen diesem und dem zweiten. Weiter oben das Eis an der Felswand. Der Gang übers Geröll ist wackelig, lose liegen die Gesteinsbrocken aufeinander, nebeneinander. Die kleineren kippen bei jedem Schritt. Mitten auf dem Geröllfeld bleibt Jaggi stehen. «Da tut sich was im Untergrund.» Rauschendes Wasser, hörbar, aber nicht zu sehen. Es versickert im Kalkstein. Jaggi geht weiter. Kurz vor dem nächsten Schneefeld bückt er sich hinab zu einer glänzenden Fläche, gross wie ein Paar Wanderschuhe. Er fährt mit der Hand über die glatte, kalte Oberfläche. «Gletschereis.» Blauer Schnee. Das klare Eis hebt sich ab vom grauen Schutt und schmutzigen Schnee, die es umgeben. Würde der Gletscher heute seinen Namen erhalten, fiele er sicher weniger lyrisch aus – drei Viertel des Blau Schnee sind mit Geröll bedeckt. Der ohnehin kleine Gletscher wirkt dadurch unvollständig und nicht besonders schön. Aber gerade das Fehlen von grossen, exponierten Eisflächen dürfte ihm das Leben retten. Oder es zumindest verlängern.

Die Ersten verschwinden in gut zehn Jahren

«Je dicker die Geröllschicht, desto weniger Schmelze», sagt Matthias Huss, Glaziologe an der ETH Zürich und Mitglied des Schweizer Gletschermessnetzes, das auch Ostschweizer Gletscher untersucht. Bei der letzten Messung im Jahr 2011 war das Eis am Blau Schnee 20 Meter dick. Inzwischen ist es rund fünf Meter dünner. Huss und sein Team haben berechnet, dass der Zwerggletscher im Jahr 2045 verschwinden wird. Verschwinden heisst: Er umfasst nur noch fünf Prozent der heutigen Fläche. Damit ist der Blau Schnee derjenige Ostschweizer Gletscher, der am längsten bestehen wird. Pizol- und Sardonagletscher schaffen es nur bis 2030, der Chligletscher bis 2035 und der Glasergletscher bis 2040. Der Blau Schnee ist der einzige im Alpstein. Die anderen liegen im Süden des Kantons St. Gallen, der Pizolgletscher auf dem Gebiet von Mels, die anderen auf dem von Pfäfers. Die Auswirkungen für die Ostschweiz, sind ihre Gletscher einmal verschwunden, schätzt Matthias Huss als gering ein. Sie seien heute schon zu klein, um einen Unterschied zu machen. «Auch wenn der Blick zum Pizol bei der Fünfseenwanderung etwas weniger imposant sein wird.»

Zudem dürfe man nicht vergessen, dass Unsicherheiten bei diesen Schätzungen gross sind. Gerade beim Blau Schnee könnte es sein, dass er sein Ende überdauert. Der Kleine ist zäh. Die Geröllschicht ist teilweise so dick, dass auch in warmen Sommern nur wenig Eis schmilzt. Und je weiter der Gletscher zurückgeht, desto dicker wird diese Schicht. In gewissen Teilen wandle sich der Blau Schnee deshalb fast in einen Blockgletscher um, «eine fliessende Schutthalde».

Unmotiviert ragt ein Haken aus dem Gestein heraus

Walter Jaggi geht zurück über das Geröllfeld. Bis zur Eisschicht an der Felswand will er nicht, zu riskant. Von oben kullern regelmässig Steine den Hang hinab. Einer ist an seiner Wade abgeprallt. Als Jaggi über das Kalkgestein neben dem ersten Schneefeld geht, macht er auf einen Haken aufmerksam, der unmotiviert aus einem Stein herausragt. «Hier ist früher einmal ein Weg verlaufen», sagt er. Es waren Beobachtungen wie diese, die Hans Aeschlimann auf Erstaunliches schliessen liessen: Der Blau Schnee, dieser heute unscheinbare Gletscher, war in den vergangenen Jahrzehnten nicht permanent geschrumpft, nein, er war sogar gewachsen, über Jahrzehnte. Von 1953 bis in die 1980er-Jahre hinein. Aeschlimann, pensionierter Sport- und Geografielehrer aus Trogen, hat sich mit dem Blau Schnee beschäftigt wie wohl kein anderer in der Region. Er hatte nach dem Hitzesommer im Jahr 2003 Haken und Markierungen im Gestein gefunden. «Davor waren sie vom Gletscher verdeckt. Das heisst, jemand musste sie dort angebracht haben, als der Gletscher noch nicht so weit vorgestossen war.» Seit 1986 führt der Weg nicht mehr entlang dieser Haken, sondern über den Sattel südlich des Girenspitzes. Dort, wo Walter Jaggi den Weg zurück zur Himmelsleiter nimmt.

Temperatur am Säntis ist gestiegen

Der Grund für den Gletschervorstoss waren sinkende Temperaturen und hohe Niederschlagswerte gewesen. Matthias Huss hat zu dieser Zeit noch keine Messungen durchgeführt, bestätigt allerdings Aeschlimanns Theorie. Auch andere Gletscher seien in dieser Periode gewachsen. Diese Zeiten sind vorbei. Seit den 1980er-Jahren wird es wärmer. Auf dem Säntis ist es in den vergangenen 50 Jahren um 1,5 Grad wärmer geworden. Und der Blau Schnee ist heute nicht einmal mehr halb so gross wie im Jahr 1973.

Erstaunlich ist nicht nur, dass er über Jahre gewachsen ist und dass dieser zähe, kleinste Ostschweizer Gletscher wohl länger als die anderen vier bestehen wird, sondern auch, dass es ihn überhaupt gibt. Während die meisten Gletscher erst ab einer Höhe von 3000 Metern entstehen, liegt der Blau Schnee gut 500 Meter tiefer. Grosse Niederschlagsmengen am Säntis mit Schneehöhen von neun Metern geben ihm Nahrung. In der geschützten Mulde hinter der Felswand sammelt sich Triebschnee an, die Lage ist nördlich und geschützt. Kaum ein Sonnenstrahl trifft je auf die Eisflächen direkt bei der Felswand. Dafür könnte sie heute ein Schneeschauer treffen.